Tibet - Die Mikro SD Speicherkarte
17.03. - 01.04. in Lhasa, Tibet
Es war in den Tagen, nachdem alle Touristen Lhasa verlassen hatten, aber keine neuen Touristen nach Lhasa reisen durften. Warum wir bleiben konnten? Einerseits haben die chinesischen Behörden keine neuen Touristen nach Lhasa gelassen, unserer Meinung nach, damit kein Ausländer mitbekommt, was in diesen Tagen in Lhasa vor sich geht. Da keine neuen Ausländer, insbesondere keine Journalisten, in Lhasa ankamen, kann auch niemand darüber berichten, was in Lhasa passiert. Andererseits haben die chinesischen Behörden auch von dem Schritt abgesehen, alle zur Zeit in Lhasa weilenden Ausländer aus Lhasa auszuweisen. Wir gehen davon aus, dass der Grund darin liegt, dass die meisten Touristen sowieso aufgrund der politischen Lage von selbst ausgereist sind. Und, da in China sowieso das Konzept, das Gesicht zu wahren gang und gäbe ist, im Sinne von, nach aussen den Anschein zu wahren, als sei alles in Ordnung. Denn ein Ausweisen der Ausländer würde ja möglicherweise die Vermutungen unterstreichen, dass die Chinesen in Lhasa wirklich die Tibeter in derem eigenen Land unterdrücken, foltern und / oder ermorden.
In diesen Tagen sind also fast alle Ausländer aus Lhasa ausgereist, so dass wir das Gefühl haben, die wenigen "Westler", die sich in diesen Tagen in Lhasa aufhalten, auch wirklich persönlich oder vom sehen her zu kennen und an zwei Händen abzählen können. Die akute Konfliktsituation zwischen den aufständischen Tibetern sowie dem in Lhasa eingerückten Militär wurde beendet, indem das Militär kurz nach den Aufständen mit Soldaten, Panzern und Waffen die Kontrolle in Lhasa übernommen hat. Eine Woche nach den Aufständen sind die Strassensperren auf ein Minimum reduziert so dass man sich wieder mehr oder weniger frei bewegen kann.
In diesen Tagen sitzen wir in einem Cafe in der tibetischen Altstadt, da wir immer noch darauf hoffen, dass sich die Situation weiter beruhigt und wir doch noch per Tandem durch Osttibet fahren können, was wir einige Tage später ja auch probieren. In diesem Cafe kommt plötzlich ein Tibeter zu uns und stellt uns eine Kanne mit süssem Buttertee hin, sagt eine Floskel wie "Be my guest", und verschwindet daraufhin nach draussen. Wir freuen uns sehr, mal wieder eingeladen worden zu sein, und wundern uns auch gar nicht allzu sehr darüber, denn wir hatten in den letzten knapp zwei Jahren unserer Reise ja sehr oft das Glück, die Gastfreundschaft von Menschen in den verschiedenen Ländern unserer Reise kennen lernen zu dürfen. Doch als wir die grosse Ein-Liter Thermoskanne nehmen und uns von dem Tee einschenken wollen, sehen wir dass dort auf einmal eine kleine Speicherkarte liegt! Die lag vorher nicht da, und muss soeben für uns auf dem Tisch platziert worden sein. Sofort rennen wir auf die Strasse hinter dem Mann her, der uns gerade auf den gesüßten Tee eingeladen hatte. Aber zu viele Leute sind auf der Strasse unterwegs, wir hatten ihn im Cafe nur Sekundenbruchteile gesehen. Wir wissen auch nicht in welche Richtung er draussen gegangen ist. Zurück im Cafe liegt aber immer noch die Speicherkarte an unserem Platz, die der Tibeter eindeutig da platziert hat.
Wir denken uns unseren Teil, was für Informationen möglicherweise auf der Speicherkarte zu sehen sind, in anbetracht der Tatsache, dass wir selbst jeden Tag sehen, wie dutzende Lastwagen, angeblich mit Tibetern gefüllt, die Stadt verlassen. Die Bewohner Lhasas, die angeblich an den Aufständen beteiligt waren, würden in Gefangenenlager gebracht werden, wo ihnen unter Foltermethoden ein "Geständnis" abgerungen würde, und für dieses "Geständnis" würde dann ein Urteil gesprochen und sofort vollstreckt werden. Wenn das wirklich so ist, wie wir es in diesen Tagen vielfach hören, dann ist es fast unmöglich für die Tibeter, Erlebnisberichte über diese Ereignisse an die westliche Öffentlichkeit zu bringen. Die chinesische Polizei und das Militär würden alles tun um solche Berichte zu verhindern. Wir wissen noch nicht was sich auf der Speicherkarte befindet, aber wir befürchten dass gerade in diesen Tagen in der von der Volksrepublik China besetzten autonomen Region Tibet schreckliche Dinge passieren, und dass Informationen über eben diese Ereignisse sich auf der Speicherkarte befinden. Natürlich wissen wir noch nicht was sich auf der Speicherkarte befindet, aber sofort rutscht uns das Herz eine Etage tiefer in die Hose als sowieso schon, denn einerseits wollen wir die vermutete Verantwortung die uns angetragen wurde auch wahr nehmen, andererseits bekommen wir auch grosse Angst, denn wenn wir jetzt von chinesischen offiziellen Stellen kontrolliert und mit solchen Daten erwischt werden würden, könnten wir möglicherweise als Verräter oder Kollaborateure selbst in China verurteilt werden oder sonst wo landen.
Wir eilen in jedem Fall zurück zu unserem Hotel. Alle Internetcafes sind zu diesem Zeitpunkt geschlossen. Aber da wir gerade erst seit unserem Visatrip nach Hong Kong einen Laptop dabei haben, und unser Garmin GPS Gerät über die gleiche Mikro-SD Speicherkarte verfügt, können wir sofort überprüfen, ob sich unsere Vermutungen bestätigen. Und tatsächlich finden wir Fotos mit Szenen von Panzern, Militärfahrzeugen und Soldaten, die nach den Aufständen in Lhasa einrücken. Die Bilder sind allerdings nicht in allzu guter Qualität, es sieht so aus als wären sie mit einem Handy oder so ähnlich von einem Computerbildschirm abfotografiert. Also sind diese Bilder nicht allzu interessant, denn es wurden schon Bilder die dies zeigten in besserer Qualität in New York Times, Spiegel und Konsorten abgebildet. Des weiteren befinden sich noch Word-Dokumente auf der Speicherkarte, die wir allerdings nicht verstehen können, da sie in Chinesisch geschrieben sind. Dem wollen wir nachgehen.
In Lhasa können oder wollen wir niemanden fragen, der uns weiterhelfen könnte, die Texte zu übersetzen. Wenn wir einen Tibeter fragen würden, wäre es möglicherweise für ihn ein Risiko, da er dadurch in Schwierigkeiten kommen könnte. Die Möglichkeit, sich an die Polizei oder Ausländerpolizei zu wenden, scheidet irgendwie aus. Und den chinesischen Angestellten in unserem Hotel, die den Text lesen könnten uns zum Teil englisch sprechen, trauen wir in dieser Extremsituation auch nicht so recht über den Weg. Und alle anderen wenigen Touristen die noch vor Ort sind können keine chinesischen Schriftzeichen lesen.
Also versuchen wir unser Glück, über das Internet an eine Übersetzung zu kommen. Doch einige deutsche Stellen an verschiedenen Orten in China haben ebenfalls Angst uns weiterzuhelfen, da sie um ihre eigene Existenz und Zukunft in China fürchten. Ein weiterer Kontakt von uns, ein in Deutschland lebender Chinese, sagt, er will den Text nicht übersetzen, da die Inhalte des Textes der Volksrepublik China schaden würden. Und sein in Deutschland aufgewachsenes Kind kann zwar chinesisch sprechen, aber nicht gut genug lesen und schreiben, um eine Übersetzung anzufertigen. Das alles ist zwar irgendwie frustrierend, zumindestens haben wir aber jetzt die Bestätigung dass dies wirklich Berichte über die Ereignisse der letzten Tage sind. Schlussendlich müssen wir mit einer automatischen schlechten Internetübersetzung vorlieb nehmen. Es geht daraus hervor, wie sich die Tibeter fühlen, und zwar unterdrückt in ihrem eigenen Land. Hinlänglich bekannt ist, dass die Chinesen das ganze Stadtbild von Lhasa umgekrempelt haben. Quer durch Lhasa, einmal komplett von West nach Ost, vorbei an Potala Palast und vorbei am alten Stadtkern, führt jetzt dievon Chinesen geplante und benannte "Beijing Lu", die "Pekingstrasse". Zwischen Potala Palast und tibetischer Altstadt die diese Strasse auch zugleich eine der Haupteinkaufsstrassen. Und die Geschäfte an dieser Strasse sind fast ausschliesslich in der Hand von chinesischen Eigentümern, da es den Tibetern an Geld mangelt, die hohen Mieten dort zu bezahlen. Dadurch fühlen sie sich ausgegrenzt in ihrer eigentlich eigenen Hauptstadt. Die Jahrzehntelange Unterdrückung führte zu den Aufständen von Lhasa, die zunächst friedlich begannen, und sich später in gewaltsamen Protesten gegen die vorwiegend chinesischen Ladenbesitzer an eben dieser Beijing Lu entluden.
Wir wollen zwar gerne die Verantwortung wahr nehmen, diese Informationen zu überbringen, aber andererseits ist uns der Besitz dieser Speicherkarte viel zu heikel. Als Informatiker versuche ich die Daten so auf unseren Computer zu kopieren, dass sie zumindest nicht einfach und sofort gefunden werden können. Die Speicherkarte hat sich daraufhin erübrigt, und wir brechen sie durch und spülen sie in der Toilette runter. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir dann die Daten an den Sitz der Tibeter im Exil in Daramsala weiterleiten.
Zugfahrt nach Chengdu
Nachdem unsere Fahrt per Tandem durch Osttibet 40km ausserhalb von Lhasa gescheitert war, wie in Bericht 49 beschrieben, entschliessen wir uns dazu, keinen weiteren Versuch zu unternehmen, mit dem Rad Osttibet zu durchqueren. Ganz Tibet wimmelt momentan von chinesischen Soldaten und Polizisten, überall sind Strassensperren, und mit unserem Tandem sind wir so unauffällig wie ein bunter Hund. Daher sitzen wir am 1. April zusammen mit Claude im Zug nach Chengdu, da auch er wenig Hoffnung hat, an all den Kontrollen vorbeizukommen. Schade, denn jetzt wäre – zumindest vom Klima her - eine wirklich perfekte Zeit zum Radeln in Tibet, doch was bleibt uns übrig?
Neue Welt in Südchina
In nur zwei Tagen im Zug verändert sich für uns vieles. Die Natur steht plötzlich in voller Blüte, das Gelb der Rapsfelder löst die in Tibet noch meist braunen Grasflächen ab und es ist T- Shirtwetter! Auch in Chengdu erschlägt uns fast die Anzahl der Touristen dort, wo wir in Lhasa doch nur wenige „Weissgesichter“ gewohnt waren. Alles ist anders, doch uns gefällt es auch in Chengdu in der Provinz Sichuan. Die Chinesen hier sind offen und freundlich, ganz anders als die in den Provinzen. Vielleicht sind die Chinesen hier auch einfach glücklicher und stehen nicht im Konflikt mit einer Minderheit wie in Xinjang oder Tibet, die sie allein von der Bevölkerungsanzahl her übertreffen und sprachlich und wirtschaftlich dominieren? Wie dem auch sei, wir Versuchen uns an die neue Situation zu gewöhnen. Wie geht es nun für uns weiter? Auch von Chengdu nach Westen ist die Strecke gerade unzugänglich, denn auch im tibetischen Teil von Westsichuan in den Bergen hat es Unruhen gegeben, und nun ist ein Gebiet von der Polizei abgesperrt, das sonst für Touristen immer offen war. Daher geht es für uns jedenfalls nun erst mal weiter in Richtung Süden.
<== zurück zu "Bericht 49 - Die zweite Festnahme in Lhasa" | weiter mit "Bericht 51 - Neue Fotogalerie Tibet"==> |
|
---|